Normalität

Durchschnitt und Illusion

Was ist schon normal? Das, was die meisten Leute tun. Normalität wird gerne als objektiver Durchschnitt jenseits von Ideologie und Politik dargestellt. Durch dieses statistische Argument wird überdeckt, dass die alltäglichen Vorstellungen von Normalität durch unsichtbare Machtbeziehungen geformt werden, die durch Synchronisierung und Einschreibung festlegen, was normal sein sollte. Die Selbstverständlichkeiten des Alltags bilden ein Gewirr von Bedeutungsnetzen, in die sich die Menschen selbst einspinnen. Sie definieren auf sprachliche oder wortlose Weise die gesellschaftlichen wie individuellen Idealvorstellungen von Mensch und Natur, Frau und Mann, Körper und Geist.

Jede Interaktion wird von einer Vielzahl teilweise widersprüchlicher Regeln geformt, die den Teilnehmern mehr oder weniger deutlich bewusst sind. Der erwünschte Normalzustand wird häufig nicht ausdrücklich definiert, sondern lässt sich nur indirekt ableiten. Manie und Depression werden beispielsweise als krankhafte Gemütslagen beschrieben, deren korrektes Mischverhältnis einen geistig gesunden Durchschnittsmenschen ergibt, der nur als implizites Ideal existiert. Im Sport wird um die nebulösen Grenzen eines „normalen“ Körpers gestritten, der nicht durch Chemikalien oder Prothesen verunreinigt werden darf. Die meisten Antibiotika sind erlaubt, Amphetamine hingegen nicht. Schwimmanzüge, deren Oberfläche die Haut von Haien nachbildet, sind für eine Weile regelkonform, Stahlfedern an Stelle von Unterschenkel und Fuß jedoch nur eingeschränkt.

Abweichungen vom gesellschaftlich konstruierten Mittelmaß werden als wünschenswert herausgestellt, wenn sie sich auf postiv besetzte Bereiche wie Attraktivität, Intelligenz und Reichtum beziehen. Was nicht den erwarteten Mindestanforderungen entspricht, wird in den Bereich der Randgruppen gedrängt, mit dem man sich nur notgedrungen beschäftigt. Behinderte, Wahnsinnige, Kriminelle, Abhängige, Verschuldete, Homosexuelle, Zugezogene und Schwangere gelten als Minderheiten weit abseits der „imaginierten Mitte der Gesellschaft“, in deren Zentrum seit langer Zeit ein berufstätiger Familienvater steht.

Eine besondere Rolle bei der Konstruktion gesellschaftlicher Normalität spielen ökonomische Ein- und Ausschlusskriterien. Wer am wirtschaftlichen Leben teilnehmen will, muss volljährig, zurechnungsfähig und liquide sein. Die Bonität gewährt Zugang zur serviceorientierten Normalität der Gegenwart. Karl Marx will mit dem Begriff des „falschen Bewusstseins“ darauf hinweisen, dass in kapitalistischen Gesellschaften besonders illusionäre Weltbilder entstehen, welche die bestehenden Verhältnisse um so unvermeidlicher erscheinen lassen. Die grundlegenden Vorstellungen von Waren, Markt und Geld, die wiederum Voraussetzung für ihre Wirksamkeit sind, werden nur selten hinterfragt. Dies geschieht für Marx unter anderem deswegen nicht, weil der Produktionsprozess im Produkt verschwindet und sich die tatsächlichen sozialen Verhältnisse nicht in den glatten Oberflächen der Dinge spiegeln. So entsteht eine verführerische Warenwelt, deren bedeutungsschwangere Vielfalt immer neue Erfüllungen vager Wünsche verspricht. Dank der bürgerlichen Mythologie, die sich durch Naturalisierung selbst unsichtbar macht, erscheint dies alles ganz normal.

Der Verdacht, dass die eigene Weltsicht von gesellschaftlichen Illusionen geprägt ist, hinter der sich eine grausame und weitgehend chaotische Realität verbirgt, findet dennoch vielgestaltigen Ausdruck. Literatur und Kino sind voller Geschichten, in denen die Protagonisten entdecken, dass die Welt nicht ist, was sie zu sein scheint und von bösartigen Mächten im Hintergrund gesteuert wird. Handelt es sich um eine hoffnungsvolle Erzählung, erhalten die Manipulatoren eine konkrete Gestalt und werden von den Helden ausgeschaltet. In der pessimistischeren Variante scheitern die Protagonisten an einem unpersönlichen System, in dem Unterdrücker und Unterdrückte identisch sind.

Literatur

Banksy 2005. Wall and Piece. London: Random House.

Barthes, Roland (1957) 2012. Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Burroughs, William 1959. The Naked Lunch. Paris: Olypmia Press.

Geertz, Clifford (1983) 2003. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Marx, Karl (1932). Das Kapital. Berlin: Gustav Kiepenhäuer Verlag.

Texte