Initiation

Übergang und Unterwerfung

Eine Initiation ist ein Ritual, das einen sozialen Übergang markiert. Praktiken dieser Art werden im frühen 20. Jahrhundert von Arnold van Gennep als „rites de passage“ gesammelt und in den universalen Dreischritt „Abtrennung-Übergang-Eingliederung“ eingeteilt. Diese Theorie wird in Ethnologie und Religionswissenschaft wegen ihres funktionalen Erklärungswertes sehr geschätzt. Die Initiation gibt den Menschen demnach die Möglichkeit, soziale Veränderung zu inszenieren und zu erinnern. Kinder werden zu Erwachsenen, Ledige zu Verheirateten, Tote zu Ahnen. Das Initiationsritual wird als eine Art gesellschaftlicher Uhr verstanden, die soziale Veränderungen anzeigt. Dazu eine kleine Geschichte.

Im Wohnheim

Es ist ein Winterabend des Jahres 2002. Ich sitze auf dem Fußboden eines kleinen Zimmers im Studentenwohnheim Nr.42 der Universität Teheran und rede mit meinen iranischen Freunden. Draußen wird demonstriert, aber die Hand voll Studenten, mit denen ich mich fast jeden Abend treffe, halten nicht besonders viel davon. Sie verfolgen die politischen Entwicklungen, doch ihre Hoffnungen auf Umbruch sind von Resignation überschattet. Sie sind angehende Architekten, Theaterwissenschaftler, Ingenieure und Archäologen, alle zwischen 25 und 35 Jahre alt. Einen anderen Staat als die Islamische Republik Iran haben sie nie besucht.

Sie stehen am Ende ihres Studiums und damit am Rande des Nichts, denn es gibt keine oder nur sehr schlecht bezahlte Arbeit. Ohne einen Verwandten, der ihnen zu einer Stellung in der Staatsbürokratie oder in der Wirtschaft verhilft, haben sie keine Aussicht auf das Geld, das sie benötigen. Und sie brauchen eine Menge Geld, denn ohne Wohnung, Auto und gesicherte Stellung ist eine Heirat unmöglich. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine traditionelle, vereinbarte Hochzeit, oder eine moderne „Liebeshochzeit“ handelt. Denn kein auch noch so romantisches Liebesideal kann den jungen Iranerinnen das sichere Wissen austreiben, dass eine Heirat in erster Linie eine ökonomische Transaktion ist.

Das Zimmer ist nur wenige Quadratmeter groß und wir sitzen auf dem grauen, fleckigen Fußbodenteppich. Die kahlen Wände waren einmal weiß und sind nun nikotingelb. Das einzige Möbelstück im Raum ist ein eiserner Spind. In der Wand neben der Tür befindet sich ein Regal mit Hygieneartikeln, Kleidern und Büchern, ein Kleiderhaken mit einigen Jacken und einer speckigen Jeans. Der Gastgeber Reza kommt gerade aus der Gemeinschaftsküche zurück, den heißen Griff eines dampfenden Kupferkessels mit einer Streichholzschachtel zwischen den Fingern haltend. Reza trägt seine grüne Jogginghose und einen braunen Pullover. Er stellt den Kessel in die Mitte des Zimmers und setzt sich auf das Deckenbündel, aus dem er später sein Bett bauen wird. Dann zündet er sich eine der unzähligen Gauloises dieses Abends an und beginnt, die auf dem Boden verstreuten Tonbänder zu inspizieren. Er entscheidet sich für Pink Floyd und schiebt die Kassette ein. Der kleine Kassettenrekorder ist ein Markenplagiat, auf dem der Schriftzug „PANASCONIC“ prangt. Bald darauf gibt es schwarzen Tee, den wir aus hohen Gläsern und mit frisch gebrochenen Zuckerstücken trinken. Der Abend scheint seinen gewohnten Gang zu nehmen, es wird geraucht, Tee getrunken und geredet.

Vor wenigen Abenden bin ich ausführlich zur Sexualität der Deutschen befragt und mit der einhelligen Meinung konfrontiert worden, die Deutschen seien das geilste Volk überhaupt. Reza half mit der Bemerkung, dass die meisten im Iran erhältlichen Pornos aus Deutschland kämen. Die Vorstellung von der deutschen Geilheit sei auf Sehgewohnheiten zurückzuführen.

Der Gesprächsverlauf des heutigen Abends scheint ähnlich heikel zu werden, denn wir sind irgendwie auf das Thema Beschneidung gekommen. Man zeigt mir das persische Wort für Beschneidung (ختنه) im Wörterbuch und informiert mich darüber, dass man im Iran als Säugling oder als Kleinkind beschnitten wird. Reza sagt, er kann sich noch daran erinnern. Auf dieses Gespräch habe ich schon längere Zeit mit gemischten Gefühlen gewartet. Als ein anderer Reza beginnt, von den Schrecken zu erzählen, die unbeschnittenen Jungen drohen, beschließe ich, mein Schweigen zu brechen. „Nein, so ist das nicht. Ich selbst bin auch nicht beschnitten.“

Mein Freund Reza schaut mich mit maßloser Verwunderung an. Er kann nicht glauben, was ich gerade gesagt habe, denkt, ich habe einen grammatikalischen Fehler begangen. Ich wiederhole mein Bekenntnis, trete die Flucht nach vorn an und sage, dass wohl die meisten Europäer nicht beschnitten sind. Reza kann es nicht glauben, die von ihm so hoch geachteten Europäer sollen alle unbeschnitten sein! Hossein und Mehdi nicken wissend – sie haben die Pornos gesehen. Ich muss Reza eindringlich versichern, dass man als unbeschnittener Erwachsener überleben kann. Er wird nachdenklich und erzählt eine Geschichte aus seiner Zeit als Praktikant in einem Teheraner Krankenhaus.

Zwischenspiel

Funktionieren Initiationsrituale? Diese Frage stellt der Ethnologe Vincent Crapanzano in den 1980er Jahren, nachdem er Beschneidungsrituale in Marokko untersucht hat. Die Beschneidung gilt als Musterbeispiel für Initiationsrituale. Das wild geborene Kind wird durch sie erst zum echten Menschen und als Mitglied der Gruppe markiert. Doch Crapanzano fällt auf, dass die beschnittenen Jungen nach der Initiation in den Kreis der Männer keineswegs ein Teil der Welt der Männer werden. Nach wie vor verbringen sie die meiste Zeit bei den Frauen und führen ihr Leben als kleine Jungen weiter. Crapanzano schließt daraus, dass die Ritualtheoretiker in der Tradition van Genneps einer „ritual illusion“ unterliegen. Sie nehmen dem Ritual ab, dass es immer tut, was es sagt, während es sich tatsächlich um einen mehr oder weniger erfolgreichen Versuch sozialer Rahmung handelt.

Das marokkanische Beispiel zeigt, dass Inititiatonsrituale nicht nur als positive Übergangshilfen gesehen werden dürfen, sondern auch Momente der Traumatisierung und der Repression sind. Eine besondere Rolle spielt dabei der Schmerz als effektiver Generator von Erinnerungsmarken. Crapanzano erinnert an Sigmund Freud, für den Beschneidungen naheliegenderweise symbolische Kastrationen sind, die der Unterwerfung dienen. Die Gesellschaft schreibt sich in die Menschen ein.

Der Ritter aus den Bergen

Reza war als Praktikant in einem Teheraner Krankenhaus der Abteilung für Beschneidungen zugeteilt worden. Der zuständige Arzt war ein launiger Kerl, der die Beschneidung „das Schwert aus der Scheide ziehen“ nannte. Diesen Witz machte er jeden Tag. Rezas Aufgabe bestand darin, nach dem Nähen der Wunde das Garn zu durchschneiden.

An einem bestimmten Tag kam eine Familie aus einem Gebirgsdorf in die Klinik. Die Mutter im schwarzen Tschador wurde von ihren drei Söhnen begleitet, der Jüngste von ihnen zwölf Jahre alt und noch nicht beschnitten. Die Gelegenheit habe sich nicht ergeben, aber jetzt wäre es höchste Zeit, den Jungen zu beschneiden. Seine beiden Brüder hatten alle Hände voll zu tun, um ihn festzuhalten, denn seit ihrer Abreise aus den Bergen leistete er erbitterten Widerstand. Die Mutter weinte um ihren ungehorsamen Sohn und hüllte sich tief in ihren Schleier. Der Junge schrie und versuchte, sich dem Griff seiner Wächter zu entwinden.

Im Behandlungsraum angekommen, befahl der Arzt den Brüdern zu gehen. Diese protestierten, der ungehorsame Bengel würde bei erster Gelegenheit die Flucht ergreifen. Der Arzt sagte in beruhigendem Ton, dass er sich mit derlei Fällen auskenne und bestand darauf, dass die beiden gehen sollten.

Der Junge blieb mit dem Arzt und seinen Helfern zurück, zu denen auch Reza gehörte. Seine Augen flogen wie die eines gehetzten Tieres hin und her, immer auf der Suche nach einem Fluchtweg. Der Arzt hatte seine eigene Methode. Er nahm das größte Skalpell, das er finden konnte, und hielt es dem verängstigten Jungen an die Gurgel. Er sagte ihm in ruhigem Ton, entweder er gehorche nun, oder er werde ihn hier auf der Stelle umbringen. Das würde ihm gar nichts bedeuten, aus diesem Raum seien schon viele nicht mehr herausgekommen.

Der zu Tode geängstigte Junge ließ sich angesichts dieser Drohung auf die Bahre legen, doch sein Widerstand war noch nicht völlig erschöpft und er musste festgehalten werden. Reza sollte seinen Kopf fixieren. Er sah dem Jungen in die blauen Augen und brachte nicht die nötige Kraft auf, um ihn still zu halten. Der Arzt wurde zornig und beorderte Reza zum bereits festgebundenen Arm des Jungen, nicht ohne zu unterstreichen, dass er als Assistent zu nichts nütze sei.

Der Junge schrie laut auf, als er eine Betäubungsspritze bekam. Dann ging alles sehr schnell, Reza musste den Faden abschneiden, das Werk war getan. Als der Junge wieder aufstehen konnte, blickte er als erstes in seine Hose, doch er konnte wegen der Bandagen nichts erkennen. Seine Brüder trugen ihn hinaus. Reza sagt: „Der Junge kam als Ritter aus den Bergen, und er ging als kleine Maus.“

Audiocollage: Iranisches Radio

Literatur

Crapanzano, Vincent 1981. Rite of Return. Circumcision in Morocco. The Psychoanalytic Study of Society 9. New York: Psychohistory Press.

Van Gennep, Arnold (1909) 1960. The Rites of Passage. Chicago: University of Chicago Press.

Texte