Energie und Macht

Hier ein etwas längerer Textschnipsel rund um die Frage, warum Energie und Macht hier im Blog als Kategorien auftauchen….

Warum ausgerechnet Energie und Macht?

Ich muss zugeben, dass ich ein verhältnismäßig düsteres Welt- und Menschenbild pflege, das in erster Linie von Energie und Macht geprägt ist. Eine Formulierung des Philosophen Bertrand Russell, der schrieb, dass die Grundeinheit der Sozialwissenschaften die Kategorie „Macht“ sein sollte, so wie die Grundeinheit der Physik die „Energie“ sei, hat mich sehr beeindruckt.i Erfahrung und Lektüre bringen mich zu der Ansicht, dass menschliches Handeln immer schon von Machtstrukturen geprägt und auf diese ausgerichtet ist.

Mit dieser Perspektive bewege ich mich allerdings im „Paradox des Kritikers“, wie es der amerikanische Philosoph Rick Roderick nannte. Je umfassender und treffender die Kritik an den herrschenden Umständen ausfällt, um so geringer erscheint die Möglichkeit, etwas an ihnen zu ändern. „Man kann ja eh nichts machen“, „Widerstand ist zwecklos“, „Die Maschinen haben gewonnen“ sind Aussagen, die diese Sichtweise mit sich bringt. Das mag alles zu einem gewissen Grad stimmen, aber ich habe den Verdacht, dass es zumindest in meinem Fall dabei nicht nur um größtmögliche intellektuelle Aufrichtigkeit geht, sondern auch um sehr persönliche Selbstvergewisserungsmaßnahmen. Darauf muss ich achten.

Dynamik der Welt und der Gesellschaft

An den Begriffen Energie und Macht schätze ich besonders, dass sie weniger die Abstraktionen statischer Zustände sind, sondern eher die Aspekte der Möglichkeiten und des ständigen Wandels enthalten. Energie wird oft definiert als die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten. Materie ist nicht mehr als zeitweise geronnene Energie, die früher oder später wieder abgegeben wird. Diese beiden Aussagen sind aus der Sichtweise der Physik nur eingeschränkt richtig, denn dort wird Energie als die Größe definiert, die sich in einem geschlossenen System nicht ändert. Sie kann sich innerhalb des geschlossenen Systems in unterschiedliche Formen, etwa Elektrizität oder Wärme verwandeln, aber nicht zu oder ab nehmen. Mir geht es hingegen vor allem um den heraklitischen Aspekt der Energie: Die Welt scheint ein unaufhörliches Spiel der Verwandlung zu sein, alles ist fließende Energie in der einen oder anderen Form.

Der Begriff Macht ist auf viele unterschiedliche Arten definiert worden, die sich jedoch darin gleichen, dass es immer um die Beeinflussung menschlichen Handelns geht, die verschiedene Formen, etwa eine schlechte Schulnote oder einen gezückten Schlagstock, annehmen kann. Auch die soziale Welt ist ein Spiel der unaufhörlichen Verwandlung, das in erster Linie durch Machtbeziehungen geformt wird. Macht und Energie sind dynamische Begriffe, die Wirkungen in der Welt beschreiben, ohne einen konkreten Kontext aber kaum Sinn ergeben. Ihr größter Unterschied besteht darin, dass Energie eine quantifizierbare Größe ist, die in Joule angegeben wird. Wollte man Macht in Zahlen fassen, wäre Geld der offensichtlichste Kandidat, doch viele Formen der Machtausübung lassen sich so nicht fassen, beispielsweise rohe Gewalt oder wenn Eltern ihre Kinder zurechtweisen. Außerdem formt die reine Möglichkeit der Machtausübung, „Er könnte dies oder jenes tun“, „Was könnte passieren?“ einen großen Teil der täglichen Interaktionen. Die Sprache der Zahlen ist für Machtbeziehungen nicht immer passend, denn wie sollen subjektive Einschätzungen vermessen werden?

Es klappert die Mühle am rauschenden Fluss

Die Verschränkung von Energie und Macht ist für mich im Bild einer Wassermühle kondensiert. Der Fluss, an dem die Mühle steht, ist die Energie: Ein mehr oder weniger natürlich geformter Strom, der ein soziales Konstrukt antreibt. Die Mühle selbst steht für die Facetten der Macht. Sie hat individuelle oder kollektive Besitzer, die Eigentumsrechte geltend machen. Zu ihrem Bau waren Rohstoffe, technologisches Wissen und ein gewisser Grad an Koordination und Arbeitsteilung notwendig. Die Arbeitsteilung spiegelt sich auch in ihrer Funktion wider. Sie wandelt Wasserenergie in mechanische Energie um, mit deren Hilfe das andernorts angebaute und geerntete Korn in Mehl verwandelt wird. Dieses wird wiederum entlang bestimmter Eigentumslinien verteilt und konsumiert, um menschlichen Körpern Energie zuzuführen. Die Metapher ließe sich noch lange auf Ähnlichkeiten und Unterschiede untersuchen. Wichtig ist daran vor allem, dass sich Energie ohne Macht denken lässt, aber nicht umgekehrt. Macht kann zwar nur in sozialen Beziehungen existieren, sie schlägt sich aber auch in der Technologie und der Art, wie wir unsere Umwelt umformen, nieder.

Militärische Machtfülle in der Gegenwart

Gehen wir von abstrakten Wassermühlen zu den konkreten Verhältnissen des Jahres 2017 unserer Zeitrechnung. Nimmt man einen sehr vereinfachten Machtbegriff, der einfach nur die Möglichkeit, Gewalt auszuüben, umfasst, ist die Institution mit der größten Machtfülle fraglos die Regierung der Vereinigten Staaten. Ihre Kriegsmaschinerie ist die mit Abstand größte von allen und ihre Rüstungsausgaben beliefen sich im Jahr 2016 auf 611 Milliarden Dollar.

Selbstverständlich gibt es auch andere Machtzentren und der militärischen Gewalt der USA sind durch die Verbreitung von Atomwaffen durchaus Grenzen gesetzt. Dennoch steht die weltweite Dominanz dieses Staates außer Frage. Deutschland gehört mit vielen anderen Staaten zu den Gebieten, die durch den „Pax Americana“ seit Ende des zweiten Weltkrieges eine lange Friedensperiode erleben dürfen. Andere Teile der Erde hatten dieses Glück nicht, doch auch hier sind amerikanische Interessen präsent, vor allem wenn es um die Versorgung mit Rohstoffen geht. Dabei spielen fossile Energieträger nach wie vor die größte Rolle. Zwei Drittel von ihnen liegen in der „strategischen Ellipse“ zwischen dem russischen Norden und der arabischen Halbinsel. Dort werden wohl auch in Zukunft die Interessen der Weltpolitik am stärksten aufeinander prallen.

Marktfundamentalismus ist die herrschende Ideologie

In wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht erleben wir den Siegeszug des Kapitalismus, wobei seine Verfechter diesen Begriff meiden und lieber von „freien Märkten“ und „Globalisierung“ sprechen. Kapital und Arbeitskraft sind tatsächlich zu globalen Strömen geworden und bilden ein weltweites System von nie zuvor dagewesenen Verflechtungen. Dabei wird die Ungleichheit zwischen den Reichsten und den Ärmsten in den letzten 30 Jahren immer größer. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat ausgerechnet, dass im Jahr 2014 die reichsten 85 Menschen der Welt so viel besitzen, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – knapp 3,5 Milliarden Menschen.

Wenn heute noch von einer „herrschenden Klasse“ gesprochen werden kann, dann lässt sich über sie vor allem sagen, dass sie immer kleiner wird und gleichzeitig immer mehr besitzt. Geht man davon aus, dass die Feststellung von Marx und Engels, dass die herrschenden Ideen einer Zeit immer die der herrschenden Klasse sind, nach wie vor gültig ist, stellt sich die Frage – was sind die herrschenden Ideen der Gegenwart? Oxfam spricht in diesem Zusammenhang von „Marktfundamentalismus“ – Regierungen sollten möglichst wenig Einfluss nehmen und vor allem die „Wettbewerbsfähigkeit“ ihrer Länder sicherstellen.

Auf einem freien Markt gibt es Wachstum und damit Wohlstand für alle, die bereit sind, hart genug dafür zu arbeiten. Wer sich anstrengt, kann alles erreichen. Das ist der Ökonomismus der Gegenwart in kürzester Form. Selbstverständlich haben die ökonomischen Eliten häufig geerbt oder sind durch andere soziale Beziehungen zu ihrem Reichtum gekommen, doch es besteht wenig Grund zum Zweifel daran, dass sie nicht auch selbst einem meritokratischen Individualismus dieser Prägung anhängen. Doch tatsächlich regiert die Oligarchie.

Menschenbild der hedonistischen Kalkulatoren

Zu diesem Ökonomismus gehört auch ein ganz bestimmtes Menschenbild, das in den Wirtschaftswissenschaften sehr komplex ausgearbeitet wird, aber im Prinzip ganz einfach ist: Menschen versuchen, mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen zu erreichen. Das sei jedenfalls der Fall, wenn sie rational handeln. Die Menschen stellen immer eine Form von Kosten-Nutzen-Kalkulation auf, wägen ab, rechnen. Man könnte fast sagen, sie haben eine Art Chip im Kopf. Hedonistische Kalkulatoren.

Die Alltagserfahrung müsste uns zeigen, dass das nicht der Fall ist. Jemanden, der immer nur auf seinen Vorteil bedacht ist und in allen Bereichen für möglichst wenig möglichst viel haben will, kann man schwer mögen. Dennoch ist dieses Menschenbild weit verbreitet und wirkmächtig – eine herrschende Idee.

Freiheit und Barbarei

Der Traum vom freien Markt birgt die besten und die schlechtesten Aspekte der Aufklärung in sich. Auf der einen Seite steht der emanzipatorische Gedanke von den gleichen Chancen für alle und frei handelnden Menschen im besten Sinne. Auf der anderen Seite die kalte Reduzierung von Menschen auf Zahlen, die neue Mythologien und ungeahnte Formen der Barbarei möglich macht. Diese gegenläufige Bewegung von Emanzipation und Unterdrückung, die von Horkheimer und Adorno als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnet wurde, ist vermutlich nach wie vor die beste Diagnose unserer Gegenwart.ii

Mit den Kategorien Energie und Macht können zwar die wesentlichen Merkmale einer Gesellschaft umrissen und kritisiert werden, doch positive Aspekte geraten dabei schnell aus dem Blick. Wer heute einen entzündeten Zahn hat, ist besser dran als vor 500 Jahren und die Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung sind zumindest für einen Teil der Menschen größer als jemals zuvor. Vieles ist besser geworden und was bringt es, die Gesellschaft pauschal dafür zu verdammen, dass echte Freiheit und Gleichheit nach wie vor nicht eingetreten sind?

Die Ideale der Aufklärung werden immer wieder pervertiert und haben zum Aufstieg gesellschaftlicher Maschinen geführt, die falsche Freiheiten im Supermarktregal versprechen, nie dagewesene Ungleichheit schaffen und ein gnadenloses Menschenbild des universalen Wettkampfes propagieren. Dennoch halte ich an den Idealen von Freiheit und Gleichheit fest, denn ich sehe keine auch nur halbwegs erträglichen Alternativen.

i Russell, Bertrand (1938) 1973. Macht. Wien: Europaverlag.

ii Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. (1947) 2009. Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag.