Archiv der Kategorie: Lebewesen

Gier oder System?

Wer die nicht nachhaltige Vorstellung vom „grenzenlosen Wachstum“ geißelt, greift mehr oder weniger bewusst die Wurzel unserer Wirtschaftsweise an. Die Forderung nach freiwilliger Selbstbeschränkung geht daneben, wenn sie auf einzelne Individuen ausgerichtet ist, denn die Gier der Einzelnen ist wie erwähnt nicht das Problem. Der Kern ist die allgemein akzeptierte und gesellschaftlich voll wirksame Vorstellung,  dass Geld immer mehr wird. Das allermeiste Geld existiert nicht bar, sondern in Form von Schulden, die sich durch Zinsen vermehren.

Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.

Karl Marx, Das Kapital

Sind wir zu gierig?

Der deutsche Lebensstil verbraucht zu viel Energie und Rohstoffe. Er zerstört die Umwelt und ist eine ungeheure Ungerechtigkeit gegenüber denen, die mit weniger auskommen müssen. Warum ist das so? Wenn es darum geht, was hier schief läuft, kommt oft die Antwort: Die Menschen sind einfach zu gierig.

Ich denke das ist irreführend, weil dadurch gesellschaftliche Probleme auf individuelle Psychologie reduziert werden. Gier wird durch diese Rede zu einem charakterlichen Defizit, von dem die gesamte Menschheit irgendwie betroffen ist, was einen schönen Nebeneffekt hat: Wenn alle schuldig sind, ist keiner Schuld. Sie stützt das Menschenbild von egoistischen Rechnern, die zwar kühl kalkulieren, aber einfach nicht genug bekommen können. Was genau die Vision des Menschen ist, die der herrschende Ökonomismus uns verkaufen will.

Gier als zweischneidiges Schwert

Gier gilt als Fluch und Segen der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Das unverhältnismäßige Verlangen nach Profit wird angeprangert, wenn die Bereicherung der Einzelnen mehr Schaden als Nutzen für die Allgemeinheit hervorbringt. Zügelloser Konsum gilt als verwerflich, wenn viel mehr gekauft wird als eigentlich nötig wäre. Immer mehr Gewinn, immer die neuesten Produkte: Das kann nicht gut gehen, sagen die Propheten der Mäßigung, so fahren wir gegen die Wand. Weniger ist mehr: Das Motto der Satten, denen dieser neue Lebensstil dann in Form von Zeitschriften und Beratung verkauft wird.

Gleichzeitig gilt die Gier als der Motor der Moderne. Das unstillbare Verlangen nach mehr wird dann als Quelle des Fortschritts und des Wachstums gesehen. Die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus läge gerade darin, dass die negativen Eigenschaften der Einzelnen zum Wohle der Vielen genutzt werden. Das führt dann zu Aussagen wie „der Kommunismus ist eine gute Idee, aber er funktioniert nicht, weil die Menschen nicht so sind“. Die aktuelle Wirtschaftsform wird dann gepriesen, weil sie auf das Schlechte im Menschen und nicht auf das Gute baut. Alles andere gilt als naiv, utopisch und unrealistisch, die bestehenden Verhältnisse werden alternativlos.

Der Geschäftsführer eines Unternehmens, das Schaden angerichtet hat, ist den Investoren und seiner Berufsehre gegenüber verpflichtet, möglichst wenig Wiedergutmachung zu zahlen. Der Teenager weiß genau, welches Handy am besten zu ihm passt: das neueste iPhone. Er weiß auch, welche Kleidermarken ok sind und welche nicht. Der Amerikaner kann sich nicht vorstellen, wie es die Menschen früher ohne Klimaanlagen aushalten konnten, 300 Millionen Inder haben nicht mal Strom. Der Ingenieur liebt Technik und will seine Familie versorgen. Deshalb arbeitet er gerne bei der Waffenschmiede am Bodensee.

Ist in diesen Fällen wirklich die Gier das Problem? Ich denke nicht, es sind gesellschaftliche Verhältnisse, die wir vorfinden und die unser Verlangen formen. Sie sind ständig im Wandel und können daher auch verändert werden. Die Gier hält uns weniger davon ab als die herrschenden Vorstellungen, mit denen wir uns einreden, unheilbare Süchtige zu sein, die alle gleich schuldig sind.

Wired vor 20 Jahren

Die Webseite der kritischen Zeitschrift „The Baffler“ ist langsam aber sicher zu einem meiner Favoriten geworden. Lesenswert ist das Interview mit Evgeny Morozov über den amerikanischen Internet-Diskurs, es gibt aber auch sehr viele alte Artikel, die sich lohnen. Beispielsweise die über 20 Jahre alte Besprechung der Zeitschrift Wired. Sie ist so aktuell wie eh und je und wirkt im Rückblick fast schon prophetisch:

Wired’s vision of the good life is impressively consistent: money, power, and a Game Boy sewn into the palm of your hand.

Wollen

In der Tat, wenn wirklich einmal die Formel für all unser Wollen und für alle unsere Launen gefunden sein wird, das heißt, wovon sie abhängen, nach welchen Gesetzen sie entstehen, wie sie sich ausbreiten, wohin in diesem oder jenem Falle ihr Streben geht, und so weiter, das heißt die richtige mathematische Formel – dann wird der Mensch vielleicht sofort aufhören zu wollen, ja, er wird wohl bestimmt aufhören. Na, was ist das für ein Vergnügen, nach der Tabelle zu wollen?

Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Narzissmus: Wie bin ich?

Narzissmus habe ich bisher als übertriebene Selbst-Liebe verstanden, nun aber mehr darüber gelesen und gelernt, dass Narzissmus auch mit einer schlechten Meinung von sich selbst einhergehen kann und das vielleicht auch häufiger tut. Daher wird Narzissmus besser als übertriebene Beschäftigung mit dem Selbst verstanden. Alles oder mindestens zu Vieles wird auf die Einschätzung der eigenen Person hin wahrgenommen und bewertet. Dabei geht es weniger darum, wie man sich selbst findet, sondern wie gut oder schlecht man aus einer „neutralen“ Perspektive gesehen tatsächlich ist. Die narzisstische Frage ist: Wie bin ich wirklich?

Natürlich kreist zu einem gewissen Grad jeder um sich selbst, wir fühlen uns als Subjekt, unsere Gedanken, Wünsche, Ängste und Träume sind uns in einer einzigartigen Weise zugänglich. Wie andere sind, fühlen, denken, das alles leiten wir aus dieser Erfahrung ab. Alle in sich drin.

Übersteigerter oder krankhafter Narzissmus liegt dann vor, wenn die Frage nach dem eigenen Wert alles andere überstrahlt, es ist nicht nur die zu gute oder zu schlechte Meinung, sondern die ständige Beschäftigung mit der Einschätzung. Es geht nicht darum, was Narziss im Wasser gespiegelt sieht, sondern dass er den Blick nicht abwenden kann. Ein aktuelles literarische Beispiel dafür ist Karl Ove Knausgård.

Gnothi seauton! Echt?

Das alte philosophische Motto „Erkenne Dich selbst!“ ist ein mehrschneidiges Schwert. Im besten Fall erkennt man sich als begrenztes, schwaches Wesen, das ganz von Zeit und Gesellschaft geformt wurde und sich nur in geringen Schattierungen von anderen unterscheidet. Und kann damit leben.

Im schlechteren Fall fragt man verunsichert narzisstisch nach dem eigenen Wert, vergleicht sich ständig und begibt sich auf eine oft fruchtlose Suche nach Ursachen und Gründen.

Im schlimmsten Fall erkennt man zu viel und erfährt Wahrheiten, die das eigene Selbstbild vollkommen zerstören, wie etwa bei Ödipus. Es kann also auch besser sein, nicht alles zu wissen.

Heute mehr Narzissmus als früher?

Ist die häufig gestellte Diagnose der „narzisstischen Gesellschaft“ zutreffend? Zu einem gewissen Grad bestimmt, und dafür sind zwei nicht per se schlechte Faktoren ausschlaggebend: Individualismus und Wohlstand.

Zumindest der Ideologie nach leben wir in einer meritokratischen Gesellschaft, die individuelle Errungenschaften besonders belohnt. Dabei wird die Tatsache ausgeblendet, dass die Leistungen der Einzelnen zum allergrößten Teil von ihrer Herkunft und den bestehenden ungerechten Verhältnissen geschuldet sind. Doch dass die Idee verschleiernd wirkt, ist nicht ihre Schuld und macht sie nicht schlechter. Wer den grassierenden Individualismus geißelt, kann selten mit besseren Vorschlägen aufwarten, sondern verfällt meistens in Träumereien von religiösen, faschistoiden oder sonstigen totalitären Gesellschaftsstrukturen, in denen eigentlich niemand leben will.

When will I be famous?

Sich ständig mit anderen zu vergleichen, gilt als sicheres Rezept für persönliches Unglück, doch in einem ideologischen System, in dem jeder Einzelne seinen Wert erst einmal beweisen muss, ist es wohl eine der wichtigsten Tätigkeiten. Als größte objektive Anerkennung des Wertes eines Individuums gilt die Berühmtheit, die darum auch am meisten begehrt wird. Wäre unsere Gesellschaft tatsächlich ganz auf persönliche Leistungen ausgerichtet, wäre das eine gute Sache. Doch stattdessen wird Berühmtheit zu einem Wert an sich, der Grund dafür ist sekundär. Das gilt auch für das starke Selbstbewusstsein – es gilt als ungeheuer wichtig, unabhängig davon, ob es dafür gute Gründe gibt oder nicht.

Verwandtschaft – Fluch und Segen

Die kapitalistische Wirtschaftweise tendiert dazu, Verwandtschaftsbeziehungen mit Ausnahme der Kernfamilie aufzulösen. Über die Kleinfamilie hinausgehende Verwandtschaftsloyalitäten werden heute oft als „Clan-Strukturen“ bezeichnet und haben einen anrüchigen Beigeschmack. Damit gehen Netzwerke der Zugehörigkeit und der Unterstützung verloren, die den Einzelnen allein mit einer unübersichtlichen Anzahl gesichtsloser Institutionen zurück lassen. Doch es ist auch eine Befreiung vom sozialen Druck zur Konformität, von kleingeistiger Enge und schrecklichen Menschen, die zufällig als Verwandte gelten. Wer möchte schon einen Groß-Onkel, der sich ganz selbstverständlich dafür verantwortlich hält, wie man lebt?

Dietmar Dath hat den schönen Satz geschrieben: „Blutsverwandtschaft ist eine Geisteskrankenheit.“ Bei der Geburt wird, je nach Kultur und Zeit, ein bestimmter Satz an maßgeblichen Verwandten zugeordnet, die man sich eben nicht aussuchen kann. Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich nicht ändern. Man kann mit den Eltern oder Geschwistern oder sonst wem brechen, aber es gibt keine neuen. Diese Einbettung ist die tiefste vorstellbare soziale Sicherung, nichts kann ein größeres Gefühl der Geborgenheit vermitteln – und nichts größere Unterdrückung. Rein zahlenmäßig gibt es vermutlich mehr Menschen, die der verwandtschaftlichen Enge entkommen möchten als umgekehrt. Sich einsam zu fühlen und sich zu sehr mit sich selbst zu beschäftigen, ist ein Problem der Privilegierten.

Money, Money, Money

Wer sich das Zimmer mit fünf anderen teilt, muss automatisch mehr Rücksicht nehmen als einsame Einzimmer-Bewohner. Wenn die Sorge um Geld und den Zugang zu Infrastruktur die meiste Zeit in Anspruch nehmen, wird die Messung des eigenen Wertes nicht weniger, aber sehr viel einfacher: Wie viel verdienst Du? Kannst Du deine Familie versorgen? Das sind eindeutige Fragen, auf die man sich klare Antworten geben kann. Sich über den eigenen Wert im Unklaren zu sein und zu sehr nach den richtigen Maßstäbe dafür zu suchen, erfordert einen gewissen Grad an Reichtum, der die rein monetäre Messung unzureichend werden lässt. Wer lieber arm ist, will zumindest berühmt sein.

Zweifellos führen Individualismus und Wohlstand zu mehr gesellschaftlichem Narzissmus, doch wer das nur schlecht findet, sollte sich die Alternativen vor Augen führen.

Analytischer Furor

Houellebecq (H.)nd Faldbakken (F.): Zwei ältliche weiße Männer, die sich an ihrem Hass auf die Gegenwart abarbeiten. H. hasst den kalten Individualismus, den sinnlosen Hedonismus und die unerbittliche Marktlogik. F. hasst heuchlerische Alternative, verfehlte Toleranz und sinnlosen Überfluss. Beide gerieren sich als Nihilisten mit barbarischen Sehnsüchten. H. träumt vom religiösen Patriarchat, F. vom kriegerischen Faschismus. Anstatt sich von der Gegenwart faszinieren zu lassen und dennoch kritisch zu sein, suhlen sie sich in Phantasien von archaischen Männlichkeitsidealen. Heulsusen, denen ich mit dem Zitat antworten möchte:

‚Well, modern feminism emasculated men.‘ Really? A girl did this to you?